Auswahlprozesse in Zeiten von Corona
Aktuelle Situation
Die Reise- und Kontaktbeschränkungen durch Corona haben bei den Einstellungsprozessen zu einem Anstieg von Videokonferenzen geführt. Auch bei CONSIGEN sind wir bei unseren Kandidateninterviews, die wir bislang als Face-to-Face-Interviews gestaltet hatten, auf virtuelle Plattformen ausgewichen, denn die Ergebnisse der strukturierten Interviews, die wir im Rahmen eines Auswahlprozesses mit unseren Kandidaten führen, sind für uns eines der wichtigsten Entscheidungskriterien.
Diese Interviewform als virtuelles Treffen ist in den letzten Jahren bedingt durch z.B. verbesserte Technologien bei den Anbietern, schnelleres und stabileres Internet sowie hochauflösende Kameras immer leistungsfähiger geworden. Trotz all dieser Verbesserungen fehlt mir persönlich bei dieser Form der Kandidatengespräche im Vergleich zu den direkten Gesprächen bislang etwas, was ich jedoch noch nicht so richtig greifen vermochte – ein „Bauchgefühl“
Mehr als nur ein Bauchgefühl
Vor einigen Tagen bin ich beim Lesen einer Fachzeitschrift auf einen wissenschaftlichen Artikel (1) aufmerksam geworden, der die unterschiedlichen Möglichkeiten zur Durchführung eines Vorstellungsgespräches, wie Face to Face und Videokonferenz, untersucht und die Ergebnisse miteinander vergleicht. Eine seiner Kernaussagen ist, dass Kandidaten in persönlichen Bewerbergespräche häufig besser bewertet werden als in virtuellen und liefert Anhaltspunkte für das „Warum“.
Als einer der wesentlichen Punkte wurde der erschwerte Augenkontakt genannt: Ist unser Blick auf unser Gegenüber auf dem Bildschirm gerichtet, können wir uns aus technischen Gründen meist nicht in die Augen schauen. Um einen Augenkontakt herstellen, müssten wir in die Kamera schauen, doch dann können uns Reaktionen unseres Gesprächspartners entgehen, weil sie oder er nicht mehr in unserem Blickfeld ist.
Mimik und Gestik können dadurch ebenfalls nicht in dem gewohnten Umfang wahrgenommen werden. Den Gesprächspartnern, insbesondere den Kandidaten fällt es dadurch schwerer, Nähe zueinander aufzubauen, weil die Reaktionen auf die nonverbale Kommunikation reduziert sind oder im Einzelfall ganz ausbleiben.
Zusätzlich sind damit auch die Möglichkeiten der Kandidaten zur Selbstdarstellung eingeschränkt, sie können sich nicht in dem Umfang präsentieren und ins „rechte Licht rücken“ wie es bei einem persönlichen Gespräch möglich ist.
Wird jedoch diese Methode in einem Auswahlprozess bei allen Kandidaten im selben Prozessschritt gleichermaßen angewandt, sind die Ergebnisse untereinander wieder vergleichbar, weil jeder die gleichen (eingeschränkten) Möglichkeiten zur Selbstdarstellung hat.
Ergänzende eigene Beobachtungen
Kandidaten haben mir nach virtuellen Vorstellungsgesprächen zudem das Feedback gegeben, dass sie insbesondere, wenn sie eine Präsentation halten mussten, sie sich in den Möglichkeiten zur Interaktion mit den Zuhörern eingeschränkt gefühlt haben: je nach Medium war es ihnen weniger bis gar nicht möglich, Reaktionen außerhalb direkt gestellter Fragen wahrzunehmen, so dass in manchen Fällen der Eindruck entstand, „alleine“ zu sein.
Je nachdem, wie routiniert die Kandidatin oder der Kandidat im Umgang mit diesen Medien ist, könnte dieser Eindruck mehr oder weniger stark ausgeprägt sein.
Virtuell – Manchmal von Vorteil
Die virtuellen Interviews bieten jedoch auch Vorteile, die von den Teilnehmern als sehr positiv bewertet werden: Die Organisation eines solchen Termins ist für alle Beteiligten kurzfristig möglich, da keine Reisen organisiert werden müssen, was nicht nur aus zeitlicher, sondern auch aus ökonomischer wie ökologischer Sicht vorteilhaft ist. Für einen ersten Eindruck, gerade wenn die Anreise mit hohem zeitlichem und organisatorischem Aufwand verbunden ist, wird ein virtuelles Treffen für ein erstes Kennenlernen von den Kandidaten positiv aufgenommen.
Fazit
Über einem virtuellen Interview liegt, bildlich gesprochen, ein Filter, der einen Teil der Informationen „verschluckt“. Ein virtuelles Interview bleibt, bei allen Fortschritten der Technik, in der räumlichen Darstellung „zweidimensional“, ergänzt um den Ton. Die Tiefe, die durch die zusätzliche nonverbale Kommunikation bei Face-to-face-Gesprächen entsteht, lässt sich mit dieser Methode bislang noch nicht darstellen, so dass im Zweifel immer das direkte Gespräch vorzuziehen ist.
Trotzdem bietet diese Vorgehensweise durchaus Vorteile: Nicht nur in Zeiten von Reisebeschränkungen lässt das virtuelle Interview allen Beteiligten flexibel einen ersten Eindruck voneinander gewinnen. Wird dies dann für alle Kandidaten, unabhängig von ihrer räumlichen Entfernung zum Unternehmen, gleichermaßen angewandt, ist meiner Ansicht nach auch eine faire Beurteilung möglich. Ist dieses Kennenlernen erfolgreich, steht einem persönlichen (Face-to- face) Gespräch nichts mehr Wege und es sollte auch genutzt werden.
Persönlich habe ich aus dieser Analyse mitgenommen, dass ich bei den Prozessen, die ich begleite und auf die ich Einfluss habe, darauf achten werden, dass in allen vergleichbaren Schritten die gleichen Vorgehensweisen Anwendung finden und der Modus im Interesse aller Beteiligten nicht geändert wird.
Wer weiterlesen möchte:
(1) Basch, J.M., Melchers, K.G., Kurz, A. et al. It Takes More Than a Good Camera: Which Factors Contribute to Differences Between Face-to-Face Interviews and Videoconference Interviews Regarding Performance Ratings and Interviewee Perceptions?. J Bus Psychol (2020).
https://doi.org/10.1007/s10869-020-09714-3
Übrigens…
Der einfacheren Lesbarkeit wegen habe ich mich in diesem Artikel für das generische Maskulinum entschieden. Daraus ergibt sich keine Präferenz für ein biologisches Geschlecht, wie z.B. divers, männlich oder weiblich. Vgl. auch mein Blogbeitrag zum „Genderstern“
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