Arbeitszeitfragmentierung – zwischen Freiheit und Verantwortung
Flexible Arbeitszeiten und -orte als Chance für mehr Work-Life-Balance
Es gibt viele Ursachen: die Einschränkungen während der Pandemie, der wachsende Fachkräftemangel, der demographische Wandel, die Digitalisierung. Sie alle haben unsere Arbeitswelt nachhaltig verändert. Im Besonderen haben sich Arbeitsorte (vor Ort, hybrid, remote) und die Arbeitszeiten für viele Menschen den neuen Anforderungen angepasst.
Die immer flexiblere Arbeitsplatzgestaltung in Ort und Zeit ist in der Tat ein Vorteil, der für viele Menschen ein sehr wichtiges Kriterium bei Wahl eines neuen Jobs darstellt. Mehrere Studien und Umfragen belegen die wachsende Bedeutung flexibler Arbeitszeitmodelle für Arbeitnehmer. Der Young Professional Attraction Index der Personalberatungsfirma Academic Work verdeutlicht die Bedeutung flexibler Arbeitszeiten besonders für junge Fachkräfte: Für 59% der jungen Fachkräfte sind flexible Arbeitszeiten ausschlaggebend bei der Wahl des Arbeitsplatzes.
Aktuelle Studie zeigt (auch) negative Zusammenhänge
Aber wie so oft gibt es zwei Seiten einer Medaille. Denn die Fragmentierung der Arbeitszeit, gemeint ist die regelmäßige mehrstündige Unterbrechung des Arbeitstages, führt laut einer aktuellen Studie tendenziell zu mehr Stress und weniger Zufriedenheit bei Beschäftigten. Die Studie von Nils Backhaus (Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin) und Yvonne Lott (Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliches Institut der Hans-Böckler-Stiftung) mit dem Titel „Zusammenhänge zwischen Arbeitszeitfragmentierung, Zeit- oder Leistungsdruck, Arbeitszeit, Ruhezeit und Work-Life-Balance: Welche Rolle spielen Geschlecht und Elternschaft?“ aus 2024 geht den Folgen einer Arbeitszeitzersplitterung nach.
Wer kennt ihn nicht, diesen Satz: „Ich geh heute früher und mach das heute Abend fertig“ oder hat ihn von Kollegen gehört. Dabei wird diese mehrstündige Unterbrechung häufig für familiäre Verpflichtungen genutzt, ob es das Abholen des Kindes aus der Kita, der Arztbesuch oder die Pflege von Angehörigen ist, in jedem Fall ist es immer auch ein aktiver Rollenwechsel. War man gerade noch Arbeitnehmer, wechselt man nahtlos in die Rolle der Privatperson – und wieder zurück, wenn die Unterbrechung beendet wird. Denn es geht ja nicht darum, weniger zu arbeiten, sondern um eine bewußt gewollte/notwendige Fragmentierung der Vollzeittätigkeit.
Herausforderung Rollenwechsel
Ich habe es selbst erlebt, dass genau dieser Rollenwechsel Energie kostet und den Leistungs- und Zeitdruck verstärkt, denn die Arbeit wird nicht weniger. Sie drängt vor in den privaten Feierabend. Hinzu kommt, dass meist die üblichen kurze Pausen entfallen. So steigt der Druck in den Abendstunden, wenn der Körper in den Ruhemodus wechseln möchte, das Arbeitspensum nachzuholen. Die gesundheitlich notwendige Erholung kommt zu kurz. Die wöchentlichen Arbeitsstunden steigen oft unbemerkt an, es bleibt häufig ein latentes schlechtes Gewissen, nicht allen Anforderungen zu genügen.
Dies Ergebnisse der Studie, genauso wie auch meine persönlichen Beobachtungen, verdeutlichen, wie essenziell klare zeitliche Grenzen und Erholungsphasen für die Vereinbarkeit von Arbeit und Familie sind.
Haupterkenntnisse der Studie
Erhöhter Stress und Zeitdruck
Arbeitszeitfragmentierung geht mit einem höheren wahrgenommenen Zeit- oder Leistungsdruck einher. Die häufigen Rollenwechsel zwischen Arbeit und Privatleben erhöhen das Stresslevel, da Arbeits- und Privatleben um dieselben zeitlichen und mentalen Ressourcen konkurrieren. Das unerledigte Arbeitspensum tragen wir gedanklich in die private „Freizeit“ hinein, die ja wiederum mit Aufgaben gefüllt ist.
Längere Arbeitszeiten
Fragmentierte Arbeitszeiten sind oft mit längeren tatsächlichen Wochenarbeitszeiten verbunden. Dies kann darauf zurückzuführen sein, dass unterbrochene Arbeit später nachgeholt werden muss, was zu einer Ausdehnung der Gesamtarbeitszeit führt. Dieses Phänomen zeigt sich auch bei der Arbeit im Home Office, schon damals als ich diese Möglichkeit nutzte und dies bei weitem die Ausnahme war.
Und obwohl viele Untersuchungen zum Home Office auf eine gleichbleibende oder leicht höhere Produktivität hindeuten, sind die Arbeitszeiten in der Regel länger. Ursachen können u.a. die Ablenkung in der häuslichen Umgebung und der fehlende Informationsaustausch mit dem Team sein.
Zudem stören Unterbrechungen den Konzentrationsprozess erheblich. Nach jeder Unterbrechung braucht das Gehirn zusätzliche Zeit, um sich wieder auf die ursprüngliche Aufgabe zu fokussieren, was wiederum die Produktivität senkt und den Zeitaufwand erhöht.
Verkürzte Ruhezeiten
Die Studie zeigt, dass Arbeitszeitfragmentierung mit verkürzten Ruhezeiten einhergeht. Die gesetzlich vorgeschriebene Mindestruhezeit von elf Stunden wird bei fragmentierten Arbeitstagen häufiger unterschritten, was negative Auswirkungen auf Erholung, Schlaf und Leistungsfähigkeit haben kann.
Weniger Work-Life-Balance
Nicht automatisch und ausschließlich führen flexible Arbeitszeiten zu einer verbesserten Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben. Die Studie zeigt, dass Beschäftigte mit fragmentierten Arbeitszeiten tendenziell unzufriedener mit ihrer Work-Life-Balance sind. Die Verlagerung von Arbeit in die Abendstunden schränkt die als sozial wertvoll empfundene Freizeit ein und verstärkt Konflikte zwischen Arbeit und Privatleben.
Psychische Belastung
Beschäftigte mit fragmentierten Arbeitstagen leiden häufiger unter Erschöpfung und finden es schwerer, nach der Arbeit abzuschalten. Die ständige Erreichbarkeit und der digitale Stress können den Schlaf-Wach-Rhythmus stören.
Zusammenfassend würde ich sagen, dass die Zersplitterung der Arbeitszeit zwar die Vereinbarkeit von Beruf- und Privatleben erleichtern kann, aber gleichzeitig erhebliche Risiken für die physische und psychische Gesundheit der Beschäftigten bergen kann.
Impulse für Unternehmen
Wenn Unternehmen flexible Arbeitszeiten und -orte anbieten, können Sie gleichzeitig die negativen Auswirkungen minimieren. Aus meiner Erfahrung mit vielen Unternehmen in den letzten Jahren, in denen diese Themen Priorität bekamen, gebe ich gern einige Impulse weiter. Sicherlich ist nicht jede Maßnahme umsetzbar, weil sie abhängig ist von Branche, Aufgabengebiet, Position und anderen äußeren Parametern. Aber vielleicht finden Sie einige Anregungen, die Sie für Ihr Unternehmen und Ihre Mitarbeitenden anpassen können.
Einführung von Fokuszeiten
Eine der effektivsten Methoden ist die Implementierung einer täglichen Fokuszeit von etwa zwei Stunden für Bereiche des Unternehmens, in denen es möglich und sinnvoll ist. Während dieser Zeit können Mitarbeitende ungestört und konzentriert an ihren Aufgaben arbeiten, was die Produktivität steigert und Stress reduziert (siehe auch u.g. deep flow).
Optimierung der Meetingkultur
Unternehmen können die Anzahl und Dauer von Meetings kritisch überprüfen und reduzieren. Einige Firmen führen beispielsweise „Focus Friday“-Initiativen ein, bei denen freitags keine Meetings stattfinden. Zudem sollten Meetings gut strukturiert und zeitlich begrenzt sein, um die Effizienz zu steigern. Hierzu habe ich in unserem Blogbeitrag „Die Plage der unnötigen Meetings: Wie Sie Ihre Zeit sinnvoller nutzen“ einige Strategien beschrieben.
Förderung „digitaler Auszeiten“
Arbeitgeber können Zeiten festlegen, in denen Mitarbeitende nicht erreichbar sein müssen, um ihre Konzentration zu fördern und eine bessere Work-Life-Balance zu ermöglichen. Anrufe, Mails oder virtuelle Meetings sollten zudem nach dem offiziellen Feierabend nicht stattfinden.
Wie wichtig die Kommunikation im Team und bei den Kollegen ist, wurde mir bewusst, als ich viele Jahre im Aussendienst war, wo per se die Arbeitszeit fragementiert ist. Meinem Team war klar, dass es bestimmte Uhrzeiten gibt, an denen sie mich nur anrufen sollten, wenn es ein echter Notfall war. Dafür war ich jedoch zu anderen Zeiten erreichbar, was einige Kollegen sehr geschätzt haben. Sie waren selbst im Außendienst und hatten Familie.
Durch die Umsetzung dieser oder auch ähnlicher Maßnahmen reduzieren Unternehmen die negativen Auswirkungen der Arbeitszeitfragmentierung und steigern gleichzeitig die Produktivität, Zufriedenheit und das Wohlbefinden ihrer Mitarbeiter.
Impulse für Mitarbeitende
Mit nachfolgenden Maßnahmen können Mitarbeitende die negativen Auswirkungen der Arbeitszeitfragmentierung minimieren.
Effektives Zeitmanagement
Priorisieren Sie Aufgaben nach Wichtigkeit und Dringlichkeit. Erstellen Sie Tages- oder Wochenpläne mit festen Zeitfenstern für wiederkehrende Tätigkeiten.
Mir hat die Einteilung in feste Zeitblöcke sehr geholfen, so dass ich zuverlässig Termine planen und Deadlines einhalten konnte. Natürlich musste ich mich auch mit Unvorhergesehem auseinandersetzen und flexibel reagieren. Hier hilft der Mut zur Improvisation, aber auch ein involviertes, verständnisvolles Umfeld ist unerlässlich. Sprechen Sie Ihre Vorgesetzen proaktiv an und unterrichten Sie sie über die Situation. Spätestens jetzt zeigt sich, ob die Unternehmenskultur zu Ihrer Vorstellung passt.
Fokus/Deep Work
Deep Work ist eine Methode zur Steigerung der Produktivität und Konzentration, die von Cal Newport, einem Informatikprofessor an der Georgetown University, entwickelt wurde. Der Begriff beschreibt einen Zustand höchster Konzentration und fokussierter Arbeit ohne Ablenkungen. Etablieren Sie täglich feste Fokuszeiten von mindestens einer Stunde, in denen konzentriert und ohne Unterbrechungen gearbeitet werden kann. Dies reduziert nachweislich das Stresserleben und verbessert die Produktivität.
Vorteile von Deep Work
– Steigerung der Produktivität und Effizienz
– Verbesserung der Arbeitsqualität
– Förderung von Kreativität und Innovation
– Unterstützung der Work-Life-Balance
Fokuszeiten einrichten
Etablieren Sie täglich feste Fokuszeiten von mindestens einer, besser zwei Stunden. Arbeiten Sie in diesen Zeiten konzentriert und ohne Unterbrechungen. Informieren Sie Kollegen über Ihre Fokuszeiten.
Klare Trennung Arbeit und Freizeit
Vermeiden Sie es, in der Freizeit zu arbeiten. Dabei hilft das Etablieren von Ritualen zum Arbeitsstart und -ende. Schalten Sie Arbeits-Benachrichtigungen in der Freizeit aus.
In meiner Zeit als junge Führungskraft hatte ich den Vorteil, dass mein Arbeitsplatz sich im Keller befand. Er war damit aus dem Blick (keine Gefahr noch schnell die Mails zu prüfen) und gleichzeitig kam es zu weniger Ablenkung, wenn ich am Schreibtisch saß. Diese räumliche Trennung war mir sehr wichtig und hat der Familie geholfen, Arbeit und Privatleben zu trennen.
Regelmäßige Pausen einhalten
Halten Sie bewusst Pausen ein und nutzen Sie diese zur Erholung. Idealerweise verlassen Sie, wenn möglich das Büro/Home Office in der Mittagspause und machen Sie auch zwischendurch kurze Bewegungspausen. Eine Runde mit dem Hund macht einen klaren Kopf, wenn Sie dabei das Handy nicht beachten oder ganz ausschalten.
Indem Sie als Mitarbeiter diese Strategien anwenden, können Sie aktiv dazu beitragen, die Fragmentierung Ihrer Arbeitszeit zu reduzieren und produktiver sowie zufriedener zu arbeiten.
Mein Fazit: Die Aufteilung von Arbeitszeiten mag kurzfristig helfen, berufliche und private Verpflichtungen zu koordinieren, doch Zeitdruck, Stress und fehlende Erholungsphasen können die Gesundheit und die Zufriedenheit mit der Work-Life-Balance erheblich beeinträchtigen.
Um dem entgegenzuwirken, ist ein klare Struktur mit zeitlichen Obergrenzen und bewussten Ruhephasen essenziell. Auch eine räumliche Trennung zwischen dem Arbeitsplatz und dem familiären Bereich ist dringend zu empfehlen. So fällt auch der Rollenwechsel leichter. Sowohl Arbeitgeber als auch Beschäftigte können sich für Strukturen einsetzen, die Flexibilität ermöglichen, ohne die Belastung ins Unermessliche zu steigern. Denn nur in einem gesunden Arbeitsumfeld kann langfristiger Erfolg – beruflich wie privat – gelingen.
Quellen und zum Weiterlesen
Studie (PDF)
Zusammenhänge zwischen Arbeitszeitfragmentierung, Zeit- oder
Leistungsdruck, Arbeitszeit, Ruhezeit und Work-Life-Balance: Welche
Rolle spielen Geschlecht und Elternschaft?
Nils Backhaus und Yvonne Lott
Hans Böckler Stiftung, Dezember 2024
Fragmentierte Arbeitstage allenfalls Notlösung für Vereinbarkeit von Job und Privatem – mehr Stress, Ruhezeiten geraten unter Druck
Bertelsmann Stiftung, September 2024
Teilzeit verliert, Zeitsouveränität gewinnt: Beschäftigte wollen flexible Arbeitszeiten
Haufe Verlag, August 2017
Flexible Arbeit – was Arbeitnehmer wollen
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