Scheitern erwünscht? Warum Personaler den Bewerber nach Misserfolgen fragen (sollten)
Fehler im Fokus
Sind Misserfolge und Niederlagen ein Thema im Vorstellungsgespräch? Ja, wir empfehlen Fehler aktiv anzusprechen und in der Tat ist es durchaus üblich, dass Bewerber im Vorstellungsgespräch nach Fehlern, Misserfolgen oder Niederlagen gefragt werden. Warum? Weil die Antwort auf eine so direkte Frage wichtige Erkenntnisse liefern kann. Personalverantwortliche setzen sie gezielt ein und verfolgen mit solchen Fragen in der Regel mehrere Ziele in bester Absicht. Aus unserer langjährigen Praxiserfahrung sowohl mit Kandidaten als auch mit Personalverantwortlichen möchte als Arbeitgeber mehr über die Selbstreflexion und Lernfähigkeit des Bewerbers zu erfahren. Dabei ist
…die Antwort wichtiger als die Frage.
Denn Sie möchten erfahren, wie der Bewerber reagiert. Hat er direkt eine Antwort, fällt ihm kein Fehler, kein Scheitern ein? Warum nicht? Erfindet er etwas oder scheint es einstudiert? Das alles zeigt Ihnen, wie reflektiert der Bewerber ist.
Was genau bedeutet Selbstreflexion im beruflichen Kontext? Sie bezieht sich auf die Fähigkeit, das eigene Denken, Handeln und die eigenen Erfahrungen kritisch zu betrachten und daraus etwas zu lernen.
Selbstreflexion umfasst:
Stärken und Schwächen erkennen
Bewerber sollten in der Lage sein, ihre eigenen Fähigkeiten realistisch einzuschätzen. Dies beinhaltet sowohl die Identifikation von Stärken als auch das Eingestehen von Schwächen und beide in den Kontext mit der beruflichen Karriere zu stellen.
Aus Erfahrungen lernen
Die Fähigkeit, aus Erfolgen und eben auch Misserfolgen zu lernen und Lehren für die Zukunft zu ziehen, ist ein wichtiger Aspekt der Selbstreflexion.
Eigene Ziele und Werte kennen
Selbstreflektierte Bewerber haben ein klares Verständnis ihrer beruflichen und persönlichen Ziele sowie ihrer Wertvorstellungen. Sie erkennen, ob ein Arbeitgeber ihren Vorstellungen entspricht, d.h. sie haben eine realistische Selbsteinschätzung. Sie sind in der Lage, ihre Fähigkeiten und Erfahrungen im Verhältnis zu den Anforderungen einer Stelle realistisch einzuschätzen.
Verhaltensänderung
Erst die Selbstreflexion ermöglicht es ihnen, das eigene Verhalten kritisch zu hinterfragen und bei Bedarf anzupassen.
Das Wissen um eigene Stärken, Schwächen, Talente und Vorstellungen ist ein wichtiger Soft Skill, der nicht nur in der Bewerbungsphase, sondern im weiteren Berufsleben von großer Bedeutung ist. So können Bewerber ihre Karriere bewusst gestalten und sich kontinuierlich verbessern.
Wichtige Erkenntnisse für Personalverantwortliche
Um die nachfolgenden Erkenntnisse zu gewinnen, ist es wichtig, dass Sie sehr genau hinschauen, wie der Bewerber auf die Fragen reagiert. Platzieren Sie die Frage, wenn sich eine gute Atmosphäre entwickelt und sich die erste Nervosität gelegt hat. Bei der Frage nach Fehlern, achten Sie auf dieses Verhalten oder diese Reaktionen:
– Wirkt der Bewerber nervös oder ausweichend?
– Versucht er, das Thema zu wechseln?
– Gibt er einstudierte oder unglaubwürdige Antworten?
Diese Beobachtungen können Aufschluss über die Selbstreflexionsfähigkeit und Kritikfähigkeit geben. Bleibt er ruhig und professionell oder wird er defensiv? Versucht er Fehler zu beschönigen oder anderen die Schuld zuzuschieben? Spricht er offen über diese Punkte, lässt sich daraus eine Problemlösungskompetenz erkennen?
Die Schilderung, wie man mit dem Misserfolg umgegangen ist und welche Lösungen man gefunden hat, gibt Einblick in die Problemlösungs-fähigkeiten des Kandidaten. Das wiederum lässt Rückschlüsse auf Persönlichkeit und Wertvorstellungen zu.
Insgesamt dienen diese Art der Fragen dazu, ein umfassenderes Bild vom Kandidaten zu erhalten, das über reine Erfolge und Qualifikationen hinausgeht. Sie ermöglichen es dem Unternehmen, die Reife, Reflexionsfähigkeit und den Umgang mit Herausforderungen einzuschätzen – wichtige Faktoren für die langfristige Eignung eines Bewerbers.
„Ich mache keine Fehler!“
Wenn ein Bewerber keine Fehler oder Niederlagen eingesteht oder behauptet, dass es keine gibt, können Sie als Personalverantwortlicher folgende Strategien anwenden:
Nachfragen und konkretisieren
Nehmen Sie die Aussage nicht so hin, sondern fragen Sie gezielt nach. Konkretisieren Sie die Frage: „Gab es vielleicht eine Situation, in der nicht alles optimal gelaufen ist?“ oder „Können Sie sich an ein Projekt erinnern, bei dem Sie im Nachhinein etwas anders gemacht hätten?“
Durch spezifischere Fragen lässt sich der Bewerber möglicherweise aus der Reserve locken. Sie können die Frage auch auf ein hypothetische Szenario lenken und fragen: „Angenommen, ein wichtiges Projekt scheitert unter Ihrer Leitung. Wie würden Sie damit umgehen?“. So kann der Bewerber seine Herangehensweise an Probleme demonstrieren, ohne direkt eigene Fehler eingestehen zu müssen.
Auf Lernprozesse fokussieren
Manchmal führt der indirekte Weg zum Erfolg. Lenken Sie den Fokus auf Lernprozesse und Weiterentwicklungspotential, z.B. auch im Studium. Hier kann sich mit Sicherheit jeder an eine heikle Situation (meist sind es Klausur- und Prüfungssituationen) erinnern, in der er sich im nachhinein anders verhalten hätte. „Welche Situation gab es, wo Sie sagen, das hätte ich gern anders gemacht oder daraus konnte ich etwas für die Zukunft lernen?“oder in Bezug auf (noch) fehlende Qualifikatinen: „Welche Fähigkeiten würden Sie beruflich weiterbringen?“ Diese Fragen ermöglichen es dem Bewerber, indirekt über Herausforderungen zu sprechen.
Als letzte Option können Sie die Situation direkt ansprechen, indem Sie gezielt fragen, ob es ihm schwerfällt, über Fehler oder Misserfolge zu sprechen. Es geht Ihnen dabei nicht um den Fehler als solches, sondern warum er sich damit schwertut. So hat der Bewerber die Chance, seine Haltung zu erklären. Sein Gegenüber zeigt ihm, dass Offenheit und Selbstreflexion im Unternehmen geschätzt werden und ermutigt ihn, sich zu öffnen.
In einer offenen Fehlerkultur können Fehler frühzeitig erkannt und als Chancen gesehen werden. Sie fördert Vertrauen und steigert die Mitarbeiterzufriedenheit. Ausführlich haben wir über eine offene Fehlerkultur in diesem Blogbeitrag geschrieben.
Was Sie als Kandidat beachten sollten
In den Gesprächen mit Kandidaten erkennen wir, wie wichtig es Kandidaten ist, wie im Unternehmen mit Fehlern umgegangen wird. Der konstruktive Umgang mit Fehlern ist ein wichtiges Entscheidungskriterium für oder gegen einen Arbeitgeber. Eine offene Fehlerkultur bildet die Grundlage für Weiterentwicklung und Verbesserung.
Daher sollten Sie sich auf die Frage nach Misserfolgen vorbereiten, weil sie Ihnen die Möglichkeit bietet, wichtige Einblicke in die Unternehmenskultur, den Führungsstil und die Werte des potenziellen Arbeitgebers zu gewinnen. Dies kann Ihnen helfen einzuschätzen, ob Sie gut ins Unternehmen passen würden.
Die Art und Weise, wie gefragt wird und wie man auf Ihre Antworten reagiert, gibt auch Aufschluss über die Fehlerkultur im Unternehmen. Eine offene und konstruktive Herangehensweise deutet auf eine positive Fehlerkultur hin, in der aus Fehlern gelernt wird.
Hingegen deutet eine sehr kritische Reaktion eher auf eine Kultur hin, in der Fehler sanktioniert werden.
Sie lässt auch Rückschlüsse auf den Führungsstil und die Werte des Unternehmens zu. Wird nach dem Umgang mit dem Fehler und daraus gezogenen Lehren gefragt, zeigt dies Interesse an persönlicher Weiterentwicklung. Liegt der Fokus nur auf dem Fehler selbst, könnte dies auf einen eher kontrollierenden Führungsstil hindeuten.
(Er)Kennen Sie Ihre Fehler
Doch wie sieht es bei Ihnen mit dem persönlichen Umgang mit den eigenen Fehlern aus? Die Frage nach dem größten Erfolg können Sie sicherlich schnell beantworten. Die Frage nach einem Misserfolg bleibt bei vielen Kandidateninterviews häufig unbeantwortet. Haben diese Kandidaten keine Misserfolge, keine Niederlagen oder Fehler? Haben Sie keine gemacht oder sehen Sie diese direkt als positive Lernerfahrung? Oder ist es ein fehlendes Bewusstsein aufgrund mangelnder Reflexion?
Wir tun uns schwer damit zu glauben, dass jemandem kein Fehler unterlaufen sein könnte. Gleichzeitig wissen wir, dass es nicht leicht ist, sich selbst Fehler oder falsche Entscheidungen einzugestehen. Es fühlt sich nach Schwäche oder einem Mangel an. Dabei sind Fehler menschlich, sie passieren und es kommt darauf an, wie sie uns bestimmen. Denn sie liegen in der Vergangenheit, ändern können wir sie nicht. Die einzige Chance nicht an ihnen zu verzweifeln, ist es, etwas daraus für die Zukunft zu lernen. Wie schon Bruce Lee sagte: Mistakes are always forgivable if one has the courage to admit them.
Selbst über eine gesunde Fehlerkultur zu verfügen, ist eine wichtige Voraussetzung und eine persönliche Stärke. Erst dann kann man sie von anderen – wie einem neuen Arbeitgeber – einfordern, sonst bleibt es eine leere Worthülse.
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